Lesen! Das war in meiner Kindheit und Jugend mein liebstes Hobby. In den letzten Jahren bin ich aber kaum noch dazu gekommen - wenn man die Pflichtlektüre für die Uni mal ausnimmt. Neulich habe ich mir einfach mal wieder die Zeit dafür genommen und wieder gemerkt, wieviel Spaß es macht. Bevor ich mich in neue Abenteuer stürze, habe ich mir zunächst aber ein paar Bücher vorgenommen, die ich in meiner Jugend gelesen hatte und deren Inhalt ich entweder weitgehend vergessen habe oder wo mich interessierte, wie mir sie denn heute wohl gefallen würden.
Begonnen habe ich mit der Wellenläufer-Trilogie von Kai Meyer. Grundsätzlich liebe ich Piratenabenteuer, hier bekommt es noch ein paar Fantasy-Elemente verpasst: So gibt es etwa eine bestimmte Art von Menschen, sogenannte Quappen, die über Wasser laufen können. Dazu zählt auch die Protagonistin Jolly. Weitere Absonderlichkeiten Geister, Götter und Klabautermänner sind in dieser Welt ebenfalls vollkommen normal. Gleichzeitig werden aber auch historische Orte der Karibik besucht, wo sich das Piratengesindel im klassischen Stil gegenseitig übervorteilt und hinters Licht führt. Diese interessante Prämisse erlaubt es Jolly, im Verlauf ihrer Abenteuer verschiedene faszinierende Schauplätze zu besuchen. Dazu zählt etwa der bekannte Sündenpfuhl Port Royale, aber auch eine schwimmende Stadt auf einem riesigen Seestern. Das Rätsel um Jollys Bestimmung als Quappe bleibt immer spannend und bekommt sogar eine etwas mystische Note. Die Trilogie ist insgesamt erkennbar auf Jugendliche ausgerichtet, trotzdem fand ich sie auch heute noch absolut hervorragend. Piraten und Fantasy sind einfach eine ziemlich coole Kombination
Ebenfalls ein Piratenabenteuer, aber komplett ohne fantastische Elemente, ist Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson. Hiervon war ich dagegen ziemlich enttäuscht. Ich erinnere mich, dass ich den Roman in meiner Jugend als ziemlich spannend empfand, besonders die Figur des Long John Silver ist mir (auch aus einer der Verfilmungen, die ich damals sah) immer im Gedächtnis geblieben. Heuer kam bei mir allerdings keinerlei Spannung auf, der Schreibstil aus dem 19. Jhd. ist schlicht und einfach überholt. Der ganze Roman wirkt wie eine endlos lange Aufzählung. Ich glaube, das größte Problem ist der Ich-Erzähler. Grundsätzlich können aus der ersten Person spannende Geschichten erzählt werden (mithilfe innerer Monologe, unzuverlässiger Ich-Erzähler und anderen Kniffen). In Die Schatzinsel ist diese Erzähltechnik aber einfach nicht ausgefeilt genug.
Gleiches gilt im Übrigen für Robinson Crusoe von Daniel Defoe, welches ebenfalls aus der Ich-Perspektive erzählt wird. Ich konnte es lediglich mit "größter Mühe" lesen (das ist eine Floskel, die im Roman ungezählte Male Verwendung findet). Ich kann mich erinnern, dass mir dieser Roman damals ebenfalls gefallen hat, vor allem der Aufbau der Selbstversorgung auf der einsamen Insel. Das sehe ich heute allerdings anders: Da Robinson einfach alles gelingt (oder es ohne Konsequenzen bleibt, wenn ihm etwas misslingt - er hat quasi unendlich viel Zeit, es erneut zu versuchen), mag auch hier keine Spannung aufkommen. Die "große Mühe" beim Lesen bezieht sich aber weniger auf den Schreibstil; durch den Aufzählungscharakter lassen sich sowohl Die Schatzinsel als auch Robinson Crusoe ziemlich fix runterlesen. Was mir die Lektüre bei Robinson Crusoe dagegen sehr erschwert hat, ist der unverhohlene Rassismus, der sogar einen wichtigen Teil der Prämisse bildet: Robinson, der zivilisierte Engländer, strandet auf einer Insel in der Nähe von noch nicht von den Spaniern eroberten Gebieten Mittel- und Südamerikas. Natürlich fürchtet er dort nicht nur Einsamkeit, Hunger und wilde Tiere, sondern vor allem wilde Indianer, die allesamt Menschenfresser sind. Als er einen dieser 'Wilden', der von anderen gefressen werden sollte, retten kann (und daraufhin Freitag tauft), erzieht er ihn zum braven, rechtschaffenen Christen. Überhaupt spielt Gott für meinen Geschmack eine viel zu große Rolle in dem Roman. Hier und dort geschieht alles nur 'so Gott will'. Furchtbar.
Natürlich muss man beide Werke im Kontext ihrer Entstehung sehen, nicht nur hinsichtlich des Schreibstils, sondern auch bei der Betrachtung der Themen und Motive. Aus heutiger Perspektive sind diese beiden Romane aber wirklich nur noch aus historischem Interesse lesbar.
Machen wir also wieder einen Sprung zu Jugendbüchern: Der Windsänger-Trilogie von William Nicholson. Hier begleiten wir die Geschwister Kestrel und Bowman in einer ziemlich seltsamen, schwer zu fassenden Fantasywelt. Die beiden gehören dem Volk der Manth an, welches sich in der Stadt Aramanth niedergelassen hat (daher wird die Buchreihe auch manchmal Aramanth-Trilogie genannt). Es scheint einige technische und gesellschaftliche Errungenschaften zu geben (zum Beispiel selbstfahrende Schiffe oder ein Schulsystem), andererseits gibt es keine Elektrizität und Kampfhandlungen werden noch mit Schwertern, Speeren und Bögen ausgetragen. Weil mir der weltliche Kontext schon als Jugendlicher so seltsam vorkam, hat mir die Trilogie damals nicht besonders gut gefallen. Um ehrlich zu sein, haben die Bücher sogar ziemliches Unbehagen in mir ausgelöst. Der erste Teil befasst sich zum Beispiel einerseits mit einer mystischen Prophezeiung und dem antiken Sängervolk, welches den Windsänger errichtet hat - ist aber gleichzeitig eine klare und unverblümte Kritik an einem nach Klassen ausgelegten und an Schulnoten orientierten Gesellschaftsentwurf, in dem sich auch Erwachsene dauerhaft Prüfungen unterziehen müssen. Die Kritik an Noten war für mich als Jugendlicher natürlich leicht verständlich und hat mir selbstredend auch gut gefallen, den Rest empfand ich aber deutlich untererklärt. Zum Beispiel können die beiden Hauptcharaktere Kestrel und Bowman in Gedanken miteinander kommunizieren - aber so wirklich thematisiert wird das nie.
Mit nun fortgeschrittenem Alter sind mir gewisse Motive heute natürlich klarer geworden. Im ersten Band gibt es zum Beispiel eine besondere Art von Antagonisten, die sogenannten 'alten Kinder'. Vereinfacht gesagt sind das Kinder, die in der Schule zu oft negativ aufgefallen sind und daher interniert werden. Sie bleiben für ihr Leben lang Kinder, sind aber gleichzeitig vollkommen ergraut und eine Berührung mit ihnen entzieht einem gesunden Menschen Lebenskraft. Die fand ich damals total gruselig, unter anderem deshalb, weil auch dieses Phänomen kaum tiefgehender erklärt wird. Mittlerweile ist mir klar, dass diese alten Kinder die im Leistungskampf über den Rand gefallene Gesellschaftsschicht repräsentiert, die vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden soll.
Auch wenn ich also nun mehr verstanden habe, bin ich mir immer noch unsicher, was ich von der Trilogie halten soll. Es werden interessante Themen angesprochen, dazu gehört etwa der erwähnte Klassenkampf der Leistungsgesellschaft, aber im zweiten Band auch die Systemfrage - Demokratie oder Diktatur? Die Beziehung der beiden Geschwister spielt natürlich auch eine wichtige Rolle, diese Darstellung hat mir auch gut gefallen. Vieles bleibt aber zu oberflächlich. Um ehrlich zu sein, ist es ein ziemlicher Fuckup verschiedenster Motive. Als Jugendbücher sind sie daher weniger geeignet, man kann in dem Alter vieles noch nicht so recht fassen. Auf der anderen Seite ist die Trilogie in ihrem Schreibstil und dem Alter der Protagonisten klar auf Jugendliche ausgerichtet. Dazu kommen einige handwerkliche Schwächen. Das gesamte erste Drittel des letzten Bandes der Trilogie ist eine einzige Charakterentwicklungsmaßnahme, um den Abschluss der Geschichte vorzubereiten: Bowman und Kestrel werden erwachsen. Dabei macht dies aber einen erzwungenen Eindruck, die Analogien und ‚Plot Devices‘ sind viel zu deutlich als solche erkennbar. Für meinen Geschmack hätte man diese 100 Seiten auch komplett weglassen können. Das ist nicht das einzige Mal, das Herleitungen im Großen wie im Kleinen konstruiert wirken. Auf der anderen Seite sind die finalen Konfrontationen der jeweiligen Bücher dann wieder meist intensiv und spannend geschrieben. Die Auflösungen sind manchmal aber wiederrum unbefriedigend konsequenzlos. Insgesamt gibt es von mir also eher keine Empfehlung.
Zum Abschluss möchte ich auf das Buch eingehen, was mir am besten gefallen hat. Es handelt sich dabei um Momo von Michael Ende. Von diesem Roman wusste ich kaum noch etwas. Bei der neuerlichen Lektüre fand ich es absolut großartig. Was ist Zeit überhaupt? Diese faszinierende Frage wird hier aufgeworfen. Allerdings überhaupt nicht so verwirrend, wie ich es noch dunkel in Erinnerung hatte. Vielmehr war ich überrascht, wie eindeutig Ende seine Botschaft hier formuliert. Man könnte es fast als eine Kampfschrift gegen den Kapitalismus deuten. Die durch all die modernen Errungenschaften gesparte Zeit ist natürlich letztendlich verlorene Zeit. Spannend finde ich auch die Rolle der Autos und Zigarren, zweier Produkte, die wohl wie wenig andere symbolisch für den Aufstieg des Kapitalismus stehen. Kurzum: Momo hat mich absolut bewegt und tatsächlich dazu gebracht, mein eigenes Leben zu überdenken. Man sollte sich mehr Zeit für die wichtigen Dinge nehmen. ‚Entschleunigung‘ ist das Stichwort, das von einigen mittlerweile auch als ein Unwort bezeichnet wird, für mich ist es aber ein sehr wichtiger Ausdruck des Gefühls, in einer sich immer schneller drehenden Welt zu leben. Michael Ende ist natürlich eher Kinderbuchautor, aber Momo möchte ich wirklich jedem ans Herz legen, egal wie alt.
So! Das war es nun mit meinem Rundumschlag. Ein paar Jugendbücher habe ich noch auf meiner Liste, etwa die Goldener Kompass-Trilogie oder Der Herr der Diebe von Cornelia Funke. Jetzt steht mir der Sinn aber erstmal nach etwas Neuem!