Ich habe die Serie jetzt in den letzten beiden Tagen durchgeschaut und muss sagen, dass sie auf rein künstlerischer und filmischer Sicht doch arge Schwächen hat. Die Dialogschreibe ist z.T. fürchterlich und auch die Handlung wirkt in vielen Teilen doch sehr konstruiert und wenig glaubwürdig. Nichts desto trotz hatte die Serie sehr viele Stärken (ohne die ich sie wohl kaum innerhalb von zwei Tagen durchgeschaut hätte).
Erstmal aber muss ich sagen, dass ich gegenüber der Serie einige Vorurteile hatte und eigentlich keinen Bock hatte sie mir anzuschauen. Da ich zu dieser Serie ein Serientagebuch geführt habe und auch meine Gedanken vor der ersten Folge niedergeschrieben habe, kann ich meine Einschätzungen noch sehr gut nachvollziehen.
Ich ging nämlich davon aus, dass diese Serie so ein typisches Betroffenheitsdrama sei, was mächtig manipulativ auf die Tränendrüse drückt. Ich zitiere einfach mal meine Gedanken, die ich vor der ersten Folge niedergeschrieben haben und die erklären, warum ich bisher keine Lust hatte sie mir anzuschauen:
"Wahrscheinlich wird das doch wieder so ein typisches Betroffenheitsdrama über Mobbing. Das war doch bereits so oft Thema, ob in Amoklauffilmen, Mobbing-Debatten oder Ähnlichem. Braucht man da jetzt so ne große Netflix-Produktion; und warum bekommt das jetzt so einen Hype? Und dann sorgt die Serie im Internet auch noch für so viele Diskussionen? Was kann da bitte so kontrovers sein, dass man darüber vielfach reden müsste. Ja, Mobbing, Selbstmord das ist alles sehr schlimm, aber was ist an der Thematik jetzt so neu, dass diese durch jene Serie so eine Welle auslöst? Ich kann mir schon genau denken, wie das ablaufen wird: Triefende & total manipulative Tränendrüseninszenierung: Armes Mobbing-Opfer im Close-Up, tieftraurige Musik, die leiden Familie, die bösen Mobber und dann der tragische Selbstmord. Mittlerweile habe ich schon so viele Filme dieser Art gesehen, dass ich mich auf sowas nicht mehr wirklich einlassen will. Wenn dann die traurige Musik im Hintergrund anfängt, dann macht's bei mir Klick und ich sage mir, aha jetzt kommt die tieftraurige und manipulative Musik, die mich offensichtlich in eine emotionale und depressive Verfassung bringen möchte. Darauf habe ich mittlerweile einfach keine Lust mehr. Wahrscheinlich ist es aber genau das, das dafür sorgt, dass Millionen von Frauen & Mädchen nach dieser Serie heulend auf dem Sofa sitzen und erstmal in's Internet gehen und darüber reden müsste. Ein Erfolgsrezept einer Serie."
Ja, erstmal eine sehr negative Ausgangslage. Wirkt natürlich recht "kalt", aber Serien/Filme müssen für mich einfach einen gewissen Unterhaltungswert haben und ich habe persönlich in der Regel recht wenig Interesse daran mir etwas anzuschauen, um mich dann in eine traurige Stimmung zu bringen.
Die Serie hat mich dann aber wirklich sehr überrascht. Für mich war sie viel weniger trauriges und emotionales Drama. Viele der Folgen waren für das schwierige Thema ungewohnt leicht und fast schon klassische, amerikanische Highschool-Kino-Kost. Die Musik ist oftmals alles andere als traurig, fast schon eher fröhlich und unbedarft. Auch die Inszenierung in der Regel nicht depressiv. Teilweise hatte ich sogar das Gefühl, dass in dieser Serie Suizid lediglich als Mittel zum Zweck einer spannenden Mystery-Serie gebraucht werde (Kurze Inhaltsangabe aus meiner Erinnerung zur ersten Folge):
Der Protagonist bekommt 13 mysteriöse Tapes eines toten Mädchens und will sie sich anhören, beim Anhören des ersten Tapes (man hört nur die ersten Worte des Mädchens), kommt seine Mutter rein - Anspannung - er wird mega nervös, wodurch der den Kassettenrekorder runterfallen lässt und dieser kaputt geht. Jetzt klaut er nem Kumpel dessen Kassettenrekorder, fährt in der Dunkelheit durch die Stadt, wird von einem Auto angefahren, doch der Adrenalinpegel bleibt oben, die Spannung ist da, was ist auf den Tapes, was erwartet uns? Er fährt weiter, dann wird er in der Nacht von einem unbekannten Auto verfolgt und flieht vor diesem. Das verstorbene Mädchen erzählt ihm auf dem Tape, dass er beobachtet werde: Der Thriller is real!
In der zweiten Folge geht das genauso weiter:
Clay sucht nach Antworten, erhält sie aber nicht. Während die Sprünge in die Vergangenheit Futter für die Handlung bieten, überschlagen sich die Ereignisse in der Gegenwart. Die Konfrontation mit ehemaligen Tape-Hörern erweist sich als schwierig, stattdessen weerden diese unruhig versuchen mit den Geschehnissen klar zu kommen. Man hat das Gefühl hier bauen sich Intrigen auf, Parteien & Gruppierungen bilden sich und irgendjemand weiß mehr als die anderen. Gegen Ende dann die große Enthüllung: Die Verbindungen reichen bis zur Mutter des toten Mädchens und so rast Tony bei einem Anruf jener Mutter untermalt von einem heroischen "Run Boy Run" in der Dunkelheit an Clay vorbei und die Spannung erreicht ihre Höhe.
Diese Art der Mystery in vielen Teilen fast schon Thriller-Inszenierung der Serie hat mich hinterfragen lassen, ob das denn der richtige Weg sei, um mit dem Thema des Suizides umzugehen. Wie bereits erwähnt war mir vieles z.T. viel zu offensichtlich & offensiv auf Mystery-Box konstruiert: Wie geht es weiter? Wer steckt dahinter? Was erwartet uns? Was hat diese Person vor?
In der Serie entwickeln sich dann jene verschiedenen "Parteien", die sich teilweise gegenüber stehen, gegeneinander agieren, Intrigen ausführen oder Ähnliches. Unterhaltsamer "Teenie-Highschool-Thriller".
Vielleicht ist aber gerade auch diese "erfrischende" und unbedarfte Herangehensweise die richtige, um sich dem Thema anzunähern. Viel weniger offensichtliches Tränendrüsendrama und dafür ne interessante und spannende Geschichte. Andererseits kann man fragen, ob es überhaupt sein darf, dass eine derartige Geschichte spannend, interessant oder gar unterhaltsam ist?
Ich bin bei der Serie drangeblieben, aber nicht wegen des Selbstmord-Themas, sondern wegen der gut untergebrachten Thriller- und Mystery-Box-Tropen, die eine durchaus spannende Highschool-Story draus gemacht haben.
Sehr gut gefallen haben mir die zeitlichen Rückblicke und Übergänge. Da sind den Machern schöne Kniffe eingefallen, um die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit bei diesen Rückblicken verschwimmen zu lassen, wodurch sie nicht zu stark konstruriert und offensichtlich eingebaut wirken (wobei man über das sehr offensive Erkennungsmerkmal der Wunde an Clays Kopf durchaus streiten kann). Wie Clay, der sich die Tapes anhört und dabei live in der Gegenwart bei den realen orten ist, so wird auch für den Zuschauer die Trennmauer von Vergangenheit und Gegenwart geschickt verwischt.
Gegen Ende hat mich die Serie dann doch emotionaler mitgenommen als ich erwartet hätte. In großen Teilen hat die Serie als Highschool-Sitcom (Michmach aus Mystery-Thriller-Comedy und Drama) richtig Spaß gemacht, wenn aber nicht das Suizidthema wie ein Damoklesschwert über der Serie geschwebt hätte. Immer wieder dachte ich mir, die Serie ist gerade richtig unterhaltsam und auch lustig (!), ist das okay, darf ich jetzt über die lustigen One-Liner und Situationskomiken durch die Eltern lachen? Vielleicht ist aber auch gerade das die Prämisse? Den Alltag möglichst ungeschönt, realistisch und eben auch amüsant zeigen, um Kontraste aufzubauen und einen dann am Ende richtig in die Magengrube zu hauen?
Denn das hat funktioniert. Ab ca. Folge 9 war ich emotional immer stärker involviert und hat mich auch getroffen. Man weiß wie es ausgeht, aber es hat mich dann doch mitgenommen.
Kritisch sehe ich jedoch wie mein Vorredner @Benson, dass die Serie für Suizidgefährdete wahrscheinlich nicht die beste Kost sein dürfte. Wie weltweit von vielen Psychotherapeuten und anderweitigen Experten kritisiert, könnte die Serie einen typischen Werther-Effekt auslösen, also Suizid bei Gefährdeten befördern.
Die Serie zeigt wenig Alternativen und Lösungsansätze für Hannah, sondern vor allem wie sie mit den Tapes nach ihrem Tod für Aufruhr, Bestrafung und Unruhe gezeigt hat. Man könnte fast sagen, dass die Serie durch den Suizid und den Tape-Botschaften möglichen Gefährdeten eine Idee gebe, was denn sie machen könnten, um nach ihrem Tod noch zu bestrafen oder Aufmerksamkeit zu erlangen.
Für jedoch nicht-Gefährdete also normale Konsumenten wie du und ich kann ich die Serie durchaus empfehlen. Sie kann ein für ein verstärktes Alltagsbewusstsein sorgen. Da würde ich @Benson etwas widersprechen bzw. relativieren. Du kritisierst z.B., dass Hannah in der Serie Menschen für Kleinigkeiten die Schuld an ihrem Tod gibt.
Die Serie heißt "13 Reasons Why". Natürlich sind nicht alle Gründe gleichgewichtig, aber es ist die Addition dieser die letztendlich zum Suizid gebracht hat. Wäre nur die Vergewaltigung passiert, hätte sie sich vielleicht nicht umgebracht. Wäre sie vorher durch das Verhalten von Alex & Jessica nicht von ihren sozialen Kontakten getrennt und zunehmend isoliert worden, wäre es aber vielleicht auch nicht passiert.
So Dinge wie ne "Hot or Not"-Dinge gab es in ähnlicher Form auch in meiner Schulzeit. Da hat sich keiner umgebracht. Die Serie oder Hannah sagt ja auch nicht, dass DIES der Grund war, warum sie sich umgebracht hat, sondern es ist das Versatzstück einer Entwicklung, die sich immer weiter verschlimmert hat. Dadurch schafft die Serie hoffentlich ein gewisses Alltagsbewusstsein für unseren täglichen Umgang miteinander.
Nur, weil wir alle, wie du es beschreibst, im Leben, insbesondere in der Schulzeit mal was schlechtes oder böses zu anderen sagen und derjenige sich dann nicht umgebracht hat, macht es das aber nicht besser. Denn bei jemandem, der emotional nicht so gefestigt ist, der in einer gefährdeten Position steht, kann jedes schlechte Worte sich dann anfühlen, wie ein Messer, was in den Körper gerammt wird. Von außen können Menschen oftmals sehr gut ihre innere Verfassung verstecken, aber innerlich können sie völlig gebrochen sein. Da kann alleine schon eine Hot or Not-Liste ein Versatzstück von sehr sehr vielen sein, die sehr verletzen.
Wie gesagt ich kritisiere auch, dass die Serie durchaus Potenzial zur Nachahmung bietet, aber im Gegensatz dazu eben für nicht-Gefährdete die Chance zu einem stärkeren Alltagsbewusstsein für Kommunikation und zwischenmenschliches Miteinander bietet.
Denn Schule kann auch in Deutschland sehr sehr hart sein. Viele Schüler quälen sich tagtäglich in die Schule. Leiden, sind sozial isoliert, aber zeigen es nicht offen nach draußen. Eine fast schon beiläufige Beleidigung durch einen Mitschüler, der das selbst vielleicht gar nicht so offensiv meint, kann bei dem Betroffenen dann aber doch viel stärker aufgenommen werden.
Ich glaube, dass innerhalb der Schule in der allgemeinen Kommunikation durchaus eine Kultur von beiläufigem Hass, Missgunst und Niedermachen besteht, dass dafür ein verstärktes Bewusstsein nichts falsches ist.
In der letzten Folge sagt Clay als er den Raum des Schulpsychologen verlässt "Wir müssen uns bessern, in der Art wie wir miteinander umgehen und Acht gebe aufeinander; das muss irgendwie besser werden." Das habe ich dahingehend interpretiert wie ich es obig beschrieben habe.
Ich persönlich habe in meiner Schulzeit zum Glück kein Mobbing erfahren müssen. Auch habe ich keinerlei Erfahrung mit Suizid oder Ähnlichem. Wenn ich mich aber an meine Schulzeit zurück erinnere, dann muss ich teilweise an die Personen aus der Klasse denken, die eben dieser gewissen "Alltagsablehnung" ausgesetzt waren, die immer wieder einen Spruch abbekommen haben, die nicht die beliebtesten waren, die beim Sport immer als Letzte genommen wurden, mit denen in der Gruppenarbeit vielleicht niemand zusammen arbeiten wollte, die in der Pause vielleicht recht isoliert und alleine rumstanden oder vielleicht sogar mal körperliche Gewalt ertragen mussten (damit meine ich nicht, dass sie verprügelt wurden, aber ein Schupsen beim Anstehen oder so kann da schon reichen). Ich kann da auch leider nicht von mir sagen, dass ich da der super Typ war, der geholfen hat, sondern im Gegenteil hab auch ich in diesem Alltagsverhalten mitgemacht. Kein aggressives oder offensives Mobbing, aber alleine schon ein unschöner Spitzname für denjenigen oder immer wieder negativen Sprüche, die man selbst gar nicht als derartig schlimm ansieht, die für denjengien aber wahrscheinlich doch viel viel schlimmer gewesen sein können. In der Retrospektive muss ich da sagen, dass Kinder/Jugendliche oftmals richtig Arschlöcher sind und ich mich frage, wie man so wenig Empathie gehabt haben kann. Damals hatte ich aber dafür einfach nicht das Bewusstsein und ich kann mir vorstellen, dass das in der heutigen Zeit durch soziale Medien eventuell noch schlimmer sein kann als zu meiner Schulzeit, wo Smartphones erst gegen Ende aufkamen. Ein verstärktes Bewusstsein für die "Alltagsablehnung/Ignoranz/Hass", die dafür sorgen kann, dass man einfach mal netter miteinander umgeht und auch den isolierten Jungen aus der Klasse integriert und eben nicht bei dem unschönen Spitznamen, sondern beim richtigen Namen nennt, kann schon ein wichtiger Schritt sein. Es geht ja nicht nur darum Suizid zu verhindern, sondern dass Kinder/Jugendliche lieber in die Schule gehen, damit nicht jeder Tag eine Qual sein muss.
Die Serie bietet also durchaus mehr Diskussionspotenzial als ich es zu Beginn erwartet hätte. Jetzt soll's das aber erstmal für meinen Beitrag sein.