Die schwere Zeltplane schloss sich hinter mir, doch auch der dicke Stoff und die Tierfelle auf meinem Unterschlupf hielten die Kälte nicht auf. Sie war überall. Mein schlichtes Bett, ein Lager aus Fellen, war schon beim Ansehen ungemütlich. Der große und fein beschnitzte Holzsessel, der den Platz am Lagerfeuer besetzte, wurde nicht vom Feuer gewärmt. Die Ressourcen waren knapp, ich konnte nicht heizen während ich fort war, nur damit mein Heim wohlig warm auf mich wartete.
Ansonsten war mein Zuhause karg. Alles was nicht lebenswichtig war, dass hatte ich längst zurückgelassen.
Einst hatte es hier anders ausgesehen. Dass dies hier die Behausung eines Häuptlings war, ließ sich nur noch erahnen. Wo vorher Jagdtrophäen, feine Webstücke und Waffen den kargen Stoff geziert haben, herrscht nun gähnende Leere. Und Kälte, immer diese grausame Kälte.
Bevor ich mich am Feuer niederließ, band ich meinen Schwertgurt ab. Ich trug ein grobschlächtiges Beil daran, mein Werkzeug und meine Waffe, falls es dazu kommen sollte, sowie ein fein gearbeitetes Schwert. Ein Zeichen meines Status, obwohl es darüber hinausgehend ziemlich nutzlos war. Früher hatte ich es mit Stolz getragen, nun kommt es mir vor wie unnötiger Ballast. Geistesabwesend begann ich ein kleines Feuer zu entfachen.
Der kleine Korn ist heute 10 Jahre alt geworden. 10 Jahre.... Es war absurd. Dieser Junge hatte nie den Sommer erlebt. Er kannte die richtige Sonne nicht, noch nicht ein einziges Mal hatte er sich ins Gras gelegt und die blühenden Blumen beobachten können. Der arme Junge. Natürlich vermisste er all das nicht, schließlich hatte er es nie erlebt, doch die Geschichten der Älteren weckten in seinen Augen die Sehnsucht die uns alle weiter treibt. Irgendwann kommen wir raus aus der Kälte, irgendwann schmilzt der Schnee...
Als Korn geboren wurde, fiel der erste Schnee. Mitten im Sommer. Es wurde abgetan als Scherz der Götter zur Geburt eines neuen Clanbruders. Aber es hörte nicht auf. Immer öfter kam es zu merkwürdigen Kälteeinbrüchen und starkem Schneefall. Bis zu dem Tag wo der Winter nicht mehr weichen wollte. 10 lange Jahre in Eis und Schnee.
Diese Jahre hatten uns nicht gut getan. Wir sind weniger geworden. Vielleicht noch 500 zogen weiter. Der Rest liegt hinter uns, begraben im Schnee.
Schon vor dem Winter waren wir Nomaden und unser Tross wirkte wie eine riesige Schlange die sich langsam durch die unwegsamsten Gebiete wand. Unsere Anpassungsfähigkeit und unsere Kenntnis der Wildnis waren unser Schlüssel zum Überleben. Die Städter wurden eingeschneit, nicht mehr in der Lage durch ihre Felder die Bevölkerung zu ernähren. Einige Dörfer und Städte haben wir auf unseren Reisen durch die Kälte schon durchstreift, aber in letzter Zeit meiden wir sie. Die Straßen wurden zuletzt immer menschenleerer, die wenigen Überlebenden waren auf sich selbst bedacht und keine Hilfe für meinen Clan. Ich habe dort Dinge gesehen... Königreiche brachen auseinander, es herrschte Chaos. Adelige hatten sich in ihren Burgen verschanzt und versuchten den Winter zu ignorieren. Doch auch die größte Speisekammer leert sich. Vor allem wenn das Volk hungrig ist und die dicksten Mauern sie nicht mehr aufhalten können. Einige Herrscher schafften es sich zu verteidigen, andere nicht...
Unsere Vorräte waren unabhängig vom Ackerbau, aber auch wir mussten darben. Einige Tiere hatten sich angepasst und ein guter Jäger konnte immer noch etwas Fleisch für die Tafel besorgen. Aber der Großteil unserer Nahrung bestand aus Beeren und Nüssen. Es gab Pflanzen die diese harte Zeit überstanden haben, aber deren Ausbeute reichte gerade zum Überleben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, den Göttern sei Dank.
Die Götter...ja... dachte ich, während ich in die kärglichen Flammen starrte. Die Götter waren ein Rätsel. Einige sagten sie würden uns bestrafen, für etwas das wir noch nicht verstanden haben. Andere, leisere Stimmen, behaupteten die Götter seien verschwunden, tot, so weit dieses Wort auf einen Gott zutreffen kann. In einem war man sich einig, es fehlten die Antworten.
Unsere Schamanen hatten alles getan, jedes Ritual, jede Anrufung, sämtliche Opfergaben... Nichts... Das Schweigen der Götter war nichts Neues, aber normalerweise gab es immer Zeichen die unseren Weg wiesen. Doch die Schamanen waren ratlos.
Nur die Ahnengeister sind uns geblieben, ein Anzeichen dafür dass die Götter uns nicht verlassen haben, so wird es jedenfalls interpretiert. Generell sind die Ahnen keine verlässliche Quelle. Ihre Nachrichten, die sie uns bei den Ritualen vermitteln wollen, bedürfen stets der Dechiffrierung durch einen Schamanen. Und diese waren sich oft uneins, vor allem in letzter Zeit.
Uneinigkeit verbreitete sich sowieso wie ein Lauffeuer. Der Glaube an die Götter und Ahnen hielt unseren Clan zusammen. Aber langsam zerfiel dieses Konstrukt. Unzufriedenheit wurde laut und ich wusste nicht was zu tun war. Lange schon war ich Häuptling, doch so ratlos ob eines Problems habe ich mich nie gefühlt. So lange ich auch mein Hirn zermarterte, mir fiel keine Lösung ein. Wir mussten so lange weiterziehen, bis wir den Sommer wiederfanden, so meine Überzeugung. Aber auch ich war nicht ohne Zweifel und das war nicht gut für einen Führer...
Ich tat mein Bestes, half den vielen Kranken und Schwachen und ich argumentierte bis zur Erschöpfung. Aber es war unnütz, ich hatte nicht die Kraft mehr meinen Posten zu verteidigen. Und die Geier saßen mir im Nacken. Selbst in dieser Situation.
Khuit, Chon, Yasni, Tsus, die vier großen Familien meines Clans. Ich war ein Khuit, eine Dynastie die viele Herrscher hervorgebracht hatte und die großen Respekt genoss. Aber das machte mich nicht unangreifbar. Wenn der Clan zerrissen genug ist, dann wittern die anderen Familien ihre Chance. Gerade die Chon waren bekannt dafür einen unpassenden Häuptling mit der Axt zu beseitigen. Denn dies war ein Posten bis zum Tode, so oder so.
Ich war alt, darüber machte ich mir keine Illusionen, doch mein Gefühl sagte mir dass ich kaum friedlich entschlafen würde, sondern vor meiner Zeit zu den Ahnen zurückkehre. Das machte mir wenig Angst, nur war ich … besorgt.
Wenn ich nicht mehr bin, dann wird der unterschwellige Kampf im Clan vermutlich offener ausgefochten werden. Momentan bildeten sich zwei Lager, von der Anzahl nicht viele Personen, dafür waren ihre Ansichten umso verhärteter.
Es gab diejenigen, die ich „Traditionalisten“ nannte. Sie waren der Meinung der Winter war eine Strafe unserer Götter für all unsere Fehler. Wir müssten wieder zurück zu unseren Wurzeln finden und die alten Werte ernst nehmen. Sie wollten eine harte Führung, jemanden der von seinen Idealen niemals abweicht, egal was es kosten möge. Unsere Rituale waren ihnen nicht genug, sie verlangten mehr Opfer und mehr Hingabe. Zwar haben unsere Traditionen unser Überleben bis jetzt gesichert, aber wir mussten uns auf etwas Neues einstellen. Unser Leben hatte sich verändert, wir konnten nicht mehr zurück zum Alten. So sehr es sich meine Brüder auch wünschten.
Die Alternative war eine jüngere Bewegung. Viele ihrer Angehörigen kannten den Sommer schon nicht mehr richtig. Er war für sie eine ferne Erinnerung, die Hälfte ihres Lebens hatten sie in der Kälte verbracht. Und sie dachten anders... Sie mussten ihren Glauben neu finden, denn dass, was ihnen von den Älteren vermittelt wurde passt nicht mehr zu ihrem Leben. Sie fordern Neuerungen und stoßen damit auch Verachtung. Sie wollen Häuptlinge aus kleineren Familien und vor allem nicht auf Lebenszeit. Man sollte diese Position anfechten können. Sie hatten ihre Gründe dafür, sicherlich, aber nicht jeder wollte sie verstehen. Auch was den altehrwürdigen Schamanismus angeht, waren ihre Vorstellungen... anders. Frevelhaft, wenn man so will. Die Kunst mit der Welt von Ahnen und Göttern zu kommunizieren war nur unserem Clan bekannt, doch ähnliche Dinge gab es unter vielen Kulturen. Doch diese „Magie“ die viel Anwendung im Rest der Welt fand, war nicht unser Weg. Den Göttern alleine war es gegeben die Beschaffenheit der Welt zu ändern, sie konnte diese Fähigkeit als Gnade gewähren, es war aber keine Selbstverständlichkeit. Keine Kraft die wir bei Gefallen anzapfen konnten. Jedenfalls war es immer so...
Mir fiel es schwer mich zu positionieren, keines der Lager schien mir im Recht zu sein. Deswegen tat ich mein Bestes diesem Konflikt fernzubleiben, doch hatte ich das Gefühl damit beiden Parteien nur noch mehr Feuer gegeben zu haben.
Die letzten Scheite waren vollständig heruntergebrannt und auch ich fühlte mich ausgebrannt und erschöpft. Es war ein langer Tag gewesen, wie so viele in letzter Zeit. Mein Zelt lag vollständig im Dunkeln als ich aufstand.
Ich seufzte... „Ihr hättet euch entscheiden sollen.“ sagte eine Stimme von hinten in einem kalten Ton. Überraschung konnte ich keine empfinden, es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen. Außerdem war ich viel zu müde um mich zu wehren. „Das hätte ich wohl. Doch hätte ich nicht nur damit das beschleunigt was nach meinem Tod geschehen wird?“ fragte ich in den finsteren Raum. „Zeig dich und töte mich wie es einem altem Krieger gebührt. Ein Messer von hinten ist die Waffe eines Feiglings.“ Den letzten Rest meiner Entschlossenheit lag ich in meine Stimme, wenn ich schon sterben musste, dann nicht als Opfer eines armseligen Meuchlers.
Die Person schritt um meinen Sessel herum und baute sich vor mir auf. Ich konnte nicht ausmachen wer es war, nicht einmal ob mir Mann oder Frau gegenüberstand. Der Körper war verhüllt von schweren Stoffen, wie auch ich sie trug. Das Gesicht war verborgen hinter einer hölzernen Maske. Diese Masken besaßen alle wichtigen Familien. Sie zeigten verschiedene Emotionen und in den Versammlungen dienten sie als Schutz der Personen und als Spiegel der Gefühle der Familie. So konnte der Häuptling die Stimmung des Clans mit einem Blick einschätzen. Die Person mir gegenüber trug eine trauernde Maske. Ob als Spott oder ernsthafter Versuch ihr Mitleid zu bekunden, konnte ich nicht sagen.
Starr blickten meine Augen geradeaus als die Klinge meines Mörder durch meine Brust in mein Herz stieß. Ich würde zu den Ahnen gehen, aber die Lage in der ich meinen Clan zurückgelassen hatte, würde mir keine Ruhe lassen.